Christliche Festtage als Begrenzung der Kindheit
Je näher man der Kirche kam, desto mehr Leute schlossen dem Zuge sich an, […] und einer großen Prozession ähnlich, rückten sie ins Dorf.
Jeremias Gotthelf (1842), Die schwarze Spinne, S. 15.
Franz Niklaus Königs «Die Kinds-tauffe im Canton Bern» zeigt festlich gekleidete Erwachsene und Kinder, die auf dem Weg zu einer Tauffeier sind. Die Taufe markiert in der christlichen Tradition den Eintritt des Kindes in die religiöse Gemeinschaft. Das nächste Fest im kirchlichen Lebenslauf ist die Konfirmation oder Firmung. Sie grenzt die Kindheit als Abhängigkeitsverhältnis vom selbständigen Erwachsenenleben ab. Diese «Übergangsriten» werden von der gesamten Gemeinschaft feierlich begangen.
Kind und Kegel
Während der Kindheit war meist die Mutter die wichtigste Bezugsperson. Sie hatte im 19. Jahrhundert eine dreifache Herausforderung zu meistern, auf die das Aquarell Franz Niklaus Königs hinweist. Die Mutterschaft auf dem Land bedeutete häufig, dass sich die Frau um die Bewirtschaftung von Haus und Garten, um die Betreuung der Kinder sowie das Wohl der älteren Generation, hier am Fenster dargestellt, kümmern musste.
Die Kinder freuten sich herzlich, und wiederholten, was sie in der Woche gelernt hatten, geschwind und gut. Da gab die Mutter ihnen ihr Abendbrod und zwo Schüsseln Milch, von der sie den Rahm nicht abgenommen hatte, weil es Festtag war.
Johann Heinrich Pestalozzi (1781), Lienhard und Gertrud, S. 239.
«Le bon père»
In einer kolorierten Umrissradierung von Sigmund Freudenberger wird ein heimkehrender Vater von seiner Familie erwartungsvoll empfangen. Während er von den Kindern neugierig begrüsst wird, gilt seine ganze Aufmerksamkeit der Mutter. Freudenberger stellt den Vater als Ernährer dar, der abends mit Sense und geerntetem Obst vom Feld heimkehrt. Ein arbeitsamer Mann wurde oft per se als «guter Vater» betrachtet. Dies, obschon Väter wegen der Arbeit abseits des Hauses nur wenig mit der Kinderbetreuung zu tun hatten.
Bürgerliche Kindheit
Im Kontrast zur bäuerlichen Kindheit stand das Aufwachsen im städtischen Bürgertum, das Daniel David Burgdorfer anhand seiner aquarellierten Umrissradierung zeigt. Die bürgerliche Kindheit war ausgerichtet auf eine standesgemässe Bildung. Anders als in Bauern-, Handwerker- und Arbeiterfamilien mussten die Kinder nicht bereits zum Erwerb der Familie beitragen. Teilweise wurde das Kind von einem eigens dafür bezahlten Kindermädchen beaufsichtigt und erzogen. Der kleine, adrett gekleidete Junge, den Burgdorfer an der Hand der «Fille d’Enfans» darstellt, gehört somit dem Bürgertum an. Auch das hölzerne Pferdchen, das er hinter sich herzieht, weist darauf hin. Zugang zu käuflichem Spielzeug hatten hauptsächlich bürgerliche Stadtkinder.
Kleine Erwachsene
Im Gegensatz zu dem kleinen Jungen an der Hand des Kindermädchens auf Daniel David Burgdorfers Umrissradierung werden zwei Kinder aus der Familie von Frisching wie Erwachsene porträtiert. Körperhaltung, Kleidung, Perücke und Gesichtsausdruck auf den beiden Ölgemälden entsprechen zeitgenössischen Erwachsenenbildnissen. Einzig ihre betont rundliche Gesichtsform weist auf ihr junges Alter hin. Von der Bildtradition der «kleinen Erwachsenen» rückte man erst Ende des 18. Jahrhunderts allmählich ab, als neue pädagogische Ansätze wie diejenigen Jean-Jacques Rousseaus und Johann Heinrich Pestalozzis zu einer natürlicheren, kindlicheren Darstellungsform beitrugen.
Unterhaltung für Jung und Alt
Auf Jahrmärkten und Festen kamen kleine Erwachsene und grosse Kinder in den Genuss ausserordentlich unterhaltsamer Darbietungen. Dabei gehörten Theateraufführungen zu den beliebtesten festlichen Schauspielen. Dies zeigt ein Aquarell Gottfried Minds aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das simple Marionettentheater in den Gassen Berns zieht zahlreiche Kinder und Erwachsene in seinen Bann. Im gemischten Publikum sind Kinder und Damen in bürgerlicher Kleidung sowie Soldaten in Paradeuniformen zu finden. Marionettentheater wie diese dienten nicht ausschliesslich der Unterhaltung:
Nun lässt sich […] allerlei veranstalten, das die Schaulust der feiernden Jugend in noch höherem Grade befriedigt […] den Kindern ein gut eingerichtetes und geleitetes Puppen- oder Marionettenspiel aufführen zu lassen, welches nicht närrisches oder gar unsittliches Zeug vorbrächte, sondern zur Unterhaltung und Belehrung, zur Erweckung guter Gedanken diente […].
Johann Jakob Sprüngli (1838), Die Jugendfeste, S. 56–57.
Kinderspiele
Ein äusserst lebhaftes Beispiel für die Darstellung von Kindern sind die Spielszenen Gottfried Minds. So schuf er häufig Darstellungen, auf denen Kinder und ihr Tun im Zentrum stehen. Auf zwei Aquarellen zeigt der Künstler Kinderscharen beim Spielen. Unbeaufsichtigt von Erwachsenen tobt sich eine Gruppe Kinder beim Fangen aus, während sich die andere Gruppe am Kreiselspiel erfreut. Der sogenannte «Peitschenkreisel» war ein typisches Strassenspiel des 18. und 19. Jahrhunderts. Es wurde sowohl einzeln als auch in der Gruppe gespielt. Dabei ging es darum, den Kreisel zuerst durch ein schnelles Abziehen der Schnur in Rotation zu versetzen und ihm durch präzise Peitschenschläge immer wieder neuen Drall zu verleihen. Das Kind, dessen Kreisel am längsten rotierte, gewann.
Das «Gampiross»
Wild wippt das von Franz Niklaus König dargestellte Mädchen auf dem Schaukelpferd vor und zurück. Das «Gampiross» wurde zum Sinnbild der im 19. Jahrhundert entstehenden Spielzeugindustrie. Begünstigend für deren Entwicklung war die breitere Akzeptanz des Spielens an sich auf der Grundlage neuer pädagogischer Ansätze. Dadurch entstand eine Schenkkultur an Feiertagen wie Weihnachten. Zuvor wurde Spielzeug hauptsächlich in der Familie hergestellt. Heimindustrielle Zentren der Spielzeugproduktion, die im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewannen, bildeten sich vor allem im angrenzenden Ausland heraus.
«Und nicht wahr, Mama, wir gehen auf den Weihnachtsmarkt wie letztes Jahr?» fragte die kleine Elsa […]. «Ja mein Herzchen! Was wollt ihr euch da kaufen?» «Ein großes Schaukelpferd;» rief Leopold, und seine schwarzen Augen blitzten vergnügt.
Amanda M. Blankenstein (1878–1880), Freud’ und Leid im Kinderleben, S. 24.
«Der Betteljunge»
Nicht alle Kinder konnten so unbeschwert spielen. Franz Niklaus Königs Radierung zeigt einen Betteljungen, der allein, barfuss und in Lumpen unterwegs ist. Armut und Verelendung von Kindern wurde bereits im 19. Jahrhundert mit verschiedenen Massnahmen bekämpft. Meistens wurden Waisen, Halbwaisen oder Kinder aus anderweitig zerrütteten Familien fremdplatziert. Bei der «Verdingung» erhielten die aufnehmenden Familien behördliches Pflegegeld. Zusätzlich mussten die Kinder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Mancherorts gab es aber auch Waisenhäuser, die sich unter dem Einfluss der erzieherischen Grundsätze Johann Heinrich Pestalozzis zu pädagogisch orientierten Institutionen wandelten.
Ich lebte Jahrelang im Kreise von mehr als funfzig Bettlerkindern; theilte in Armuth mit ihnen mein Brod; lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen.
Johann Heinrich Pestalozzi (1801), Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, S. 3.
Pioniere der Pädagogik
Zu den bekanntesten pädagogischen Pionierprojekten zählten Johann Heinrich Pestalozzis Institut in Yverdon und Philipp Emanuel von Fellenbergs Erziehungsanstalt Hofwil. Mit solchen Einrichtungen versuchten engagierte Pädagogen, dem akuten Mangel an Armenhäusern und Elementarschulen entgegenzuwirken. Institutionen wie Hofwil dienten ausserdem der stetigen Entwicklung neuer Ideen zur Armutsbekämpfung und Elementarbildung. Hofwil, das unter anderem eine «Armen-Erziehungsanstalt» und eine «Mädchenschule» umfasste, betrachtete Fellenberg als Vorbild für ein gesamtschweizerisches Volksschulwesen. Die Lithografie aus dem Jahr 1843 gibt einen Eindruck über die Pausenaktivitäten im «Grossen Institut» Hofwil. Die Kinder klettern, turnen und spielen Ball, während die Pausenaufsicht zu Pferd nach dem Rechten sieht.
Rousseau als Lehrer
Da das Schulwesen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nur schwach ausgeprägt war, erhielten lediglich Kinder wohlhabender Familien das ganze Jahr Unterricht, meist von Privatlehrern. Lange bevor er sein pädagogisches Werk «Émile» schrieb, arbeitete auch Jean-Jacques Rousseau als Hauslehrer. Die Radierung aus den 1780er-Jahren zeigt das Haus im Val-de-Travers, in dem Rousseau zeitweise wohnte. Im Vordergrund wird auf eine Stelle aus «Émile» Bezug genommen, in der Rousseau, auf einer Bank sitzend, einen faulen Schüler zum Wettrennen motivierte:
Man legte den Kuchen auf einen grossen Stein, der als Zielpunkt diente, die Rennbahn wurde bezeichnet; […] auf das Zeichen rannten die Jungen los; der Sieger bemächtigte sich des Kuchens und ass ihn erbarmungslos vor den Augen der Zuschauer und des Besiegten. […] Mein Herr Junker war es endlich müde, die so sehr verlockenden Kuchen vor seinen Augen verzehren zu sehen, und kam endlich auf den Gedanken, dass gut zu laufen doch zu etwas gut sein könnte, und da er sah, dass er auch zwei Beine habe, begann er sich im Geheimen zu versuchen.
Jean-Jacques Rousseau (1876), Emil I, S. 301–302.
Lernen durch Erfahrung
In seinem Aquarell «La crainte enfantine» stellte Sigmund Freudenberger einen Jungen dar, der angesichts eines bellenden Hundes erschrickt und in den Armen seiner Mutter Schutz sucht. Um solch furchteinflössende Begegnungen künftig zu umgehen, lernt der Junge aus der erworbenen Erfahrung und passt sein Verhalten an. Das selbständige Sammeln von Erfahrungen ist Rousseau zufolge eine der drei wichtigen Lernquellen, von denen Kinder ihr Wissen und ihre Fähigkeiten erlernen:
[…] Quellen dieser Erziehung sind entweder die Natur, oder die Menschen, oder die Dinge. Die innere Entwickelung unserer Fähigkeiten und Organe ist die Erziehung der Natur; die Art, wie man uns lehrt von dieser Entwickelung Gebrauch zu machen, ist die Erziehung der Menschen; die Erwerbung eigener Erfahrung an den Gegenständen, die auf uns einwirken, ist die Erziehung der Dinge. […] Drei Arten von Lehrern wirken also immer bei unserer Erziehung zusammen.
Jean-Jacques Rousseau (1876), Emil I, S. 147.
Im Unterricht
Da ich mich genöthigt sahe, den Kindern allein und ohne alle Hülfe Unterricht zu geben, lernte ich die Kunst viele miteinander zu lehren […].
Johann Heinrich Pestalozzi (1801), Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, S. 15.
Aufmerksam nehmen die fünf Kinder unterschiedlichen Alters an der Musikstunde teil. Die Durchmischung verschiedener Altersstufen im Unterricht war im 19. Jahrhundert üblich. Heute gängige Standards kleiner Klassen ungefähr gleichaltriger Kinder mussten sich erst entwickeln. Bis zur Verankerung der Volksschule in der Bundesverfassung von 1848 wurden wichtige Grundsätze geschaffen. So verordnete beispielsweise das Wallis 1828 eine jährliche fünfmonatige Schulpflicht für Kinder im Alter von 7 bis 14. Die Vorgaben der Schulpflicht und -dauer wurden kantonal geregelt. Aber nicht nur dadurch kam es zu Unterschieden. Auch zeichneten sich ländliche Gebiete im Gegensatz zu städtischen durch einen kürzeren Schulbesuch aus.
Mit Heidi auf der Alp
Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule in’s Dörfli hinunter […].
Johanna Spyri (1881), Heidi’s Lehr- und Wanderjahre, S. 83.
In ländlichen Regionen bedeuteten Schulferien nicht wie heute Freizeit. Hier waren Kinder ein wichtiger Teil der familiären Arbeitsgemeinschaft. So waren sie im Frühjahr beispielsweise für das Instandsetzen der Felder zuständig. Während der arbeitsintensivsten Wochen im Sommer, in denen kein Unterricht stattfand, übernahmen sie vielfach die Aufgabe der Hirten, wie Heinrich Füssli anhand eines Jungen mit Ziegen auf der Rigi zeigt. Melken, Hüten und Käsen auf den teilweise hoch in den Bergen gelegenen Alpen war bei jedem Wetter ihr Tagesablauf.
Kinder und Arbeit
Franz Niklaus König dokumentiert mit «Der Abend-Sitz» die eigene Familie. Die Töchter stellen bei Kerzenschein Garn her. Die Textilproduktion wurde vor allem im Kanton Zürich und in der Ostschweiz zu einem zentralen Erwerbszweig. Die Heimarbeit führten hauptsächlich Frauen und Kinder aus. Mit der einsetzenden Industrialisierung wurde dieses Arbeitsmodell allmählich von der Produktion in Fabriken abgelöst. Die Ausbeutung von Kindern als billige Arbeitskräfte erreichte dabei ein bedenkliches Ausmass. Um bis zu 16 Stunden pro Tag arbeiten zu können, blieben viele der Schule fern. Der prekären sozialen Situation versuchte man, behördlich entgegenzuwirken. So gab es ab 1815 im Kanton Zürich ein Verbot von Fabrikarbeit vor dem neunten Lebensjahr. Auch die tägliche Arbeitszeit wurde reguliert.
Es sollen die jungen Leute täglich nicht mehr als zwölf bis vierzehn Stunden beschäftigt werden […].
Kanton Zürich (1815), Verordnung wegen der minderjährigen Jugend in Fabriken, S. 171.
Erwachsen werden
Zur Kindheit gehörte im 19. Jahrhundert neben dem Spielen, Arbeiten und Lernen auch der allmähliche Abschluss dieser Lebensphase. Den Übergang zum Erwachsenenleben stellt Franz Niklaus König mit einer aquarellierten Aquatinta dar: Beim «Kiltgang», der vor allem auf dem Land verbreitet war, warben junge Männer um junge Frauen. Sie entwuchsen mit dem nächtlichen Besuch ihrem kindlichen Alter und standen auf der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt.